Der dritte Weltkrieg hat schon begonnen
Davon ist jedenfalls Gabor Steingart, der Herausgeber der Wirtschaftszeitung Handelsblatt, ĂŒberzeugt, und
er kann seine Position gut begrĂŒnden. In seinem neuen Buch âWeltbebenâ beschreibt er die Folgen der westlichen, im wesentlichen amerikanischen Interventionspolitik im Nahen Osten. Vieles, was aufseiten der
islamischen Staaten nach blindem Fanatismus aussehe, sei eine Reaktion auf die amerikanische Interessenpolitik der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre. Anders ausgedrĂŒckt: Die giftige Frucht, die heute
aufgehe, sei auch vom Westen gesĂ€t worden. Der US-Soziologe Samuel Huntington habe es den westlichen FĂŒhrern frĂŒh schon vorhergesagt, dass es niemals gelingen werde, eine Gesellschaft von einem
Kulturkreis in einen anderen zu verschieben, doch die Amerikaner hĂ€tten genau das versucht â in Persien, im Irak, in Afghanistan und zuletzt auch in Ăgypten. Sie könnten sich âerkennbar nicht damit abfinden,
dass ihre Kultur zwar einzigartig, aber nicht universell ist. Mit religiösem Feuereifer beseitigen sie nicht nur Diktatoren, sie beseitigen vor allem bestehende Ordnungssysteme. Das Machtvakuum in Syrien, Libyen
und Irak, das keine nicht-islamische Macht je wird fĂŒllen können, wurde erst dadurch zur BrutstĂ€tte des internationalen Terrorismus.â Die âIdee von der Freiheit der Andersdenkendenâ lasse sich aber nicht
âmit vorgehaltener Maschinenpistole verbreitenâ. Im Irak, in Libyen, Pakistan und Afghanistan hĂ€tten die EinsĂ€tze des US-MilitĂ€rs die Lage nicht befriedet, sondern im Gegenteil das Alltagsleben der
betroffenen Nationen chaotisiert und brutalisiert. Die FlĂŒchtlingskrise Europas sei der sichtbare Ausdruck einer politischen Illusion, die in Washington ihren Ausgang genommen habe. Wem jetzt der Blick
auf die Weltkarte der Konflikte zu mĂŒhsam sei, der mĂŒsse ânur bis zur nĂ€chsten FlĂŒchtlingsunterkunft laufen, um sich einen Eindruck vom Scheitern der amerikanischen Weltbefriedungspolitik zu verschaffen. Das
Nachbeben desâKrieges gegen den Terrorâ spĂŒrt man noch im kleinsten europĂ€ischen Dorf. Diejenigen, die 2003 Saddam Hussein beseitigt haben, tragen auch Verantwortung fĂŒr die Situation von heute [...] Der Kern
dieser Konflikte liegt nicht in den USA, aber erst Amerika hat diesen religiös und kulturell verhĂ€rteten Kern der arabisch-islamischen Welt zum Kochen gebracht.â Die Solidarisierungseffekte, die
Amerikas Islamfeldzug bis heute auslösten, seien von enormer Wucht. Sie hĂ€tten zu einem kometenhaften Aufstieg des Islam zu einer imperialen Macht neuen Typs gefĂŒhrt: âDiese Macht gliedert sich in
selbstbewusste staatliche Akteure â im Zentrum Iran und Saudi-Arabien â und eine Vielzahl nicht-staatlicher Akteure, die in den Ruinen zerfallener und zerfallender Nationalstaaten, also in Libyen, Irak, Jemen,
Syrien, Afghanistan und Teilen Pakistans, die BrutstĂ€tten des neuzeitlichen Terrorismus errichtet haben.â Steingart fĂŒhrt aus, wie die wechselnden Allianzen der USA wĂ€hrend der Kriege im Nahen
Osten und in Afghanistan dazu gefĂŒhrt hĂ€tten, dass sich die Amerikaner und mit ihnen der ganze Westen nach und nach alle islamischen Hauptströmungen gemeinsam zu Feinden gemacht hĂ€tten, auch wenn diese sich
eigentlich untereinander spinnefeind seien. Der Islam habe sich zu einer antiwestlichen Mobilisierungsideologie entwickelt, und die westlichen Politiker unterschÀtzten deren Explosivkraft Àhnlich wie der britische
Premierminister Chamberlain und Stalin vor dem Zweiten Weltkrieg Hitler unterschĂ€tzt hĂ€tten. Vor allem wĂŒrden sie nicht begreifen, dass Kriege auch ganz anders gefĂŒhrt werden könnten: âDer Gegner ĂŒberfĂ€llt
nicht mehr Kasernen, ParlamentsgebÀude und Rundfunksender, sondern besetzt unsere Köpfe. Seine AnschlÀge hat er sorgfÀltig choreografiert und inszeniert, ihrem Wesen nach verstehen sich die neuen Kriege als
Designerkriege, die auf visuelle Effekte zielen und psychologische Wirkung erzielen wollen.â Es gehe den Radikalislamisten darum, die âlabile Kollektivpsyche der westlichen Gesellschaftenâ zu
verletzen. Daher sei es völlig falsch, immer nur die einzelnen TerroranschlÀge zu betrauern, sich aber der Erkenntnis zu verweigern, dass ein Krieg unvereinbarer Systeme begonnen habe. Wir seien nÀmlich nicht
Opfer einer chaotischen Abfolge von TerroranschlĂ€gen, sondern Beteiligte eines globalen Krieges: âEin dritter Weltkrieg hat begonnen, und die Tatsache, dass kein Regierungschef im Westen diese
Bezeichnung öffentlich wĂ€hlen wĂŒrde, sagt mehr ĂŒber die Aufrichtigkeit der Regierungschefs als ĂŒber den Charakter des Krieges. Kanzlerin Merkel hat den Konflikt mit dem radikalen Islam erst unterschĂ€tzt und
dann nicht verstanden. Sie versucht, die Gewaltszenen in Sequenzen von Tragik und Drama zu zerlegen, auch um den seriellen und ganzheitlichen Charakter der Ereignisse zu dementieren. Doch wer hinter die OberflÀche
des Fanatismus schaut, wer die tektonischen Schichten von Religion und Propaganda, von Hass und Todessehnsucht hinter sich lĂ€sst, stöĂt auf den harten Kern des Konflikts, und auf dem steht: Politik, genauer
gesagt Interessenpolitik. Es geht hier im Innersten nicht um Religion, sondern um Macht in all ihren AusprĂ€gungen.â Der Unterschied zur Blockkonfrontation zwischen USA/NATO und
Sowjetunion/Warschauer Pakt bestehe darin, dass sich diesmal zwei Kulturkreise, der christliche und der muslimische, zu nahe gekommen seien. Wieder gehe es um geopolitische Dominanz und â durchaus beidseitig â
um einen klar artikulierten Vernichtungswillen. In dieser Situation, so Steingart, sei die Aufnahme von Millionen von FlĂŒchtlingen aus den Kampfzonen der islamischen Staaten eben nicht allein ein Akt der
HumanitĂ€t, sondern auch die Eröffnung eines neuen, innerwestlichen Frontabschnitts. Der Westen schĂ€tze dabei die Verteilung der KrĂ€fte falsch ein: Alle 53 Nationen, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt wĂŒrden,
seien von der radikalislamischen Erweckungsbewegung erfasst, und wĂ€hrend Europa und die USA in den FĂŒnfzigerjahren noch ungefĂ€hr die HĂ€lfte der globalen LandoberflĂ€che beherrscht hĂ€tten, seien es heute nur
noch 22 Prozent, der islamische Kulturkreis liege bereits bei 21 Prozent. Und: âDank seiner starken Bevölkerungsdynamik werden die Muslime im Jahr 2030 26 Prozent der Weltbevölkerung stellen und das Christentum
als Weltreligion ĂŒberholt haben.â Quellenhinweis: Steingart, Gabor: Weltbeben, 240 Seiten, 16,99 EUR; ISBN: 978-3-8135-0519-1
TOPIC Nr. 01/2017
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