Ein Plädoyer für die angeblich „mystisch-schwärmerische Stille Zeit“
Von Thorsten Brenscheidt, Bochum
Steht das tägliche Bibellesen und Beten, die so genannte „Stille Zeit“ auf dem Prüfstand? Ist sie zu
hinterfragen? Einige reformierte Theologen haben sich damit auseinandergesetzt und kommen zu erschĂĽtternden Ergebnissen.
Sebastian Heck, Pastor einer freien reformierten Gemeinde, stellt fest: „Es gab in der frühen Neuzeit mystisch-schwärmerische Strömungen, die Christen wegführten von einem kollektiven, wahrhaft
‚katholischen’ Glauben, der im kirchlichen Bekenntnis sowie in festen kirchlichen äußerlichen Formen Ausdruck findet. Diese Christen pflegten eine privatisierte, individualistisch-religiöse
Erfahrungsfrömmigkeit.“1 Zudem hätten Aufklärung und Romantik dazu geführt, dass die Kirche „mit
äußerlich sichtbaren Institutionen, Ämtern und Sakramenten praktisch ersetzt wurde durch die private, unfehlbare, schwärmerisch-geistliche Erfahrung in der ‚Stillen Zeit’ ...“2 Das Wort Gottes ist nicht in der „Stillen Zeit“ zu suchen, sondern gemäß Römer 10,8 in der Predigt. „... ein Wort, das erst verkündigt werden muss?“³, fragt Heck. „Warum betont Paulus hier so stark die Verkündigung des Wortes? Hatte
der Apostel denn noch nicht das Geheimnis einer mystischen, unmittelbaren Erfahrung mit Gott entdeckt, die doch die Gemeinde samt ihres Gottesdienstes irgendwie ĂĽberflĂĽssig, vielleicht sogar
langweilig macht?“4 Heck zitiert schließlich Johannes Calvin: „... denn obwohl Gottes Kraft nicht an
solche äußeren Mittel gefesselt ist, so hat er doch uns an diese geordnete Art der Unterweisung gebunden, und wenn die Schwarmgeister sich weigern, sich daran zu halten, so verwickeln sie sich in
viele verderbliche Stricke. Viele treibt der Hochmut, die Aufgeblasenheit oder der Ehrgeiz dazu, dass sie
sich einreden, wenn sie für sich allein die Schrift läsen und darüber nachdächten, so könnten sie genug Fortschritte machen, ...“5 Die „spirituellen Selbstversorger“6, wie sie Heck nennt, werden also schon beim großen Reformator Calvin als „Schwarmgeister“ entlarvt. Heck argumentiert, dass die Gaben und
Ämter in der Gemeinde ohnehin nicht notwendig wären, „wenn Gott genauso gut auch direkt im stillen Kämmerchen in unser Hirn und Herz hätte flüstern können und wollen“7. Wie Heck untersuchte auch der reformierte Theologe Ronald Senk den Ursprung der „Stillen Zeit“. Er
zitierte drei unterschiedlich geprägte christliche Autoren und kommt schließlich für alle drei zu einem unglaublichen Ergebnis: „Bei den oben genannten Beispielen von W. Bühne, Watchman Nee oder
Gordon Mcdonald [sic!] wurde schon indirekt deutlich, dass die Ursprünge des ‚Stille Zeit’-Gedankens in
der buddhistischasiatischen und später mystischen Vorstellung von Stille und Meditation zu suchen und zu finden ist. Diese heidnische Vorstellung, in der Stille und Meditation besonders spirituelle
Begegnungen (mit Gott oder anderen Geistern) zu haben, wurde einfach mit dem christlichen Glauben vermengt. Besonders heute, in einer Zeit, welche von Bibelkritik, Humanismus und Schwärmerei
gekennzeichnet ist, wird auch in christlichen (evangelikalen!) Kreisen viel auf diese schwärmerische Art
der ‚Frömmigkeit’ Wert gelegt. Dieser Vorstellung liegt eine unbiblische mystisch-schwärmerische Vorstellung vom Geist Gottes zu Grunde, die das Wort Gottes und den Geist Gottes voneinander
scheidet.“8 Dieses Urteil, Wolfgang Bühne gebe buddhistische und mystische Empfehlungen, und die „Stille Zeit“
sei an sich schon schwärmerisch, ist einmalig. Dies betrifft auch das Vorurteil, das jeder „Stille Zeit“-Übende automatisch etwas vom Heiligen Geist außerhalb der Heiligen Schrift erwarten würde.
Sicherlich gibt es auch solche, die mit einem charismatischen Geistbegriff täglich die Bibel lesen. Aber
diesen Vorwurf auch auf konservativ Bibeltreue zu erheben, die Gottes Willen und Plan allein in seinem
Wort suchen, erkennen und verstehen wollen, ist völlig haltlos. Senk beschreibt schließlich die Gefahr,
wenn man auf eine regelmäßige „Stille Zeit“ achtet: „Dies artet in Gesetzlichkeit und unbiblischen
Frömmigkeitsstress aus und vermittelt nicht nur ein falsches Heils- und Heiligungsverständnis, sondern auch ein falsches Gottesbild.“9
Am Beispiel von Watchman Nee gibt Senk zu bedenken, dass viel Bibellesen an sich auch nichts
bringe: „Denn trotz aller intensiven ‚Stillen Zeit’ lehrt man Werkgerechtigkeit, Schwärmerei oder andere
Dinge. Da hilft auch nicht noch eine Stunde länger oder noch eine Stunde früher! Denn was bringt die Stille Zeit, wenn daraus unbiblisch, falsche und fatale Lehren und Überzeugungen entspringen bzw.
diese nicht korrigiert werden?“10 Auch wenn der Begriff der „Stillen Zeit“ in der Bibel so nicht bekannt ist, gibt es dennoch viele
Anhaltspunkte. So gibt es zunächst unzählige Beispiele dafür, morgens früh aufzustehen, um dem Herrn zu dienen: Abraham (Gen 21,14; 22,3), Jakob (Gen 28,18), Mose (Ex 34,4), Josua (Jos 6,12)
.Salomo assoziierte spätes Aufstehen mit Faulheit: „Wie lange willst du liegenbleiben, du Fauler? Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?
‚Ein wenig schlafen, ein wenig schlummern, ein wenig die Hände in den Schoß legen, um zu ruhen’: so holt dich die Armut ein wie ein Läufer, und der Mangel wie ein bewaffneter Mann!“ (Spr 6,9)
David sehnte sich frühmorgens nach seinem Gott: „Herr, in der Frühe wirst du meine Stimme hören; in der Frühe werde ich dir zu Befehl sein und Ausschau halten.“ (Ps 5,4)
Im längsten aller Psalmen schreibt dessen Autor: „Ich komme der Morgendämmerung zuvor und schreie; ich hoffe auf dein Wort. Meine Augen
kommen den Nachtwachen zuvor, damit ich nachsinne über dein Wort.“ (Ps 119, 147f.) Auch der Herr Jesus machte es sich zur Gewohnheit:
Und am Morgen, als es noch sehr dunkel war, stand er auf, ging hinaus an einen einsamen Ort und betete dort. (Mk 1,35)
Was machte er sich zur Gewohnheit? Zeit mit seinem Vater im Himmel zu verbringen. Hierzu gibt Senk zu bedenken, dass „der innertrinitarische Umgang nicht einfach auf uns übertragen werden darf“11. Biblisch begründet wird dies jedoch nicht. Bereits vor Fertigstellung des Neuen Testamentes gab es Christen, nämlich in Beröa, die für ihr
tägliches Schriftstudium gelobt wurden: „Diese aber waren edler gesinnt als die in Thessalonich und nahmen das Wort mit aller
Bereitwilligkeit auf; und sie forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhalte.“ (Apg 17,11)
Die Kritiker der „Stillen Zeit“ räumen ein, dass diese ja gar nicht in der Bibel erwähnt sei. Es hatte
seinerzeit keiner eine eigene Bibel. Von daher könne man heute nicht einfordern, dass die Gläubigen,
„Stille Zeit“ halten sollten. Geht es aber wirklich darum, etwas zu tun, was zu biblischen Zeiten unbekannt war? Beten konnten Gläubige frühmorgens zu allen Zeiten. Und wenn sie „nachsinnen“
wollten über Gottes Wort, hatten sie entweder Teile der Heiligen Schrift in schriftlicher Form oder im Gedächtnis zur Verfügung. Und diese Texte waren meistens sogar auswendig gelernt. Wenn das Wort
Gottes gemäß Johannes 6,63 wirklich „Geist und Leben“ ist, sollten wir es heutzutage vielmehr als Segen betrachten, dass wir es vollständig zur Verfügung haben. Hinzu kommt, dass die meisten
Gläubigen auch das Lesen gelernt haben – zwei Tatsachen, für die wir überaus dankbar sein sollten. Die
äußeren Voraussetzungen für ein regelmäßiges Bibellesen und –studium sind also vorhanden. Calvin
sah im privaten Biebllesen die Gefahr, die Gemeinde als ĂĽberflĂĽssig zu betrachten. Sicherlich lehnte er
eine „Stille Zeit“ nicht an sich ab, befürwortete aber auch nicht ein regelmäßiges privates Bibellesen
zusätzlich zum Gemeindeleben. Das eine muss das andere ja nicht automatisch ausschließen, als stünden beide in Konkurrenz zueinander. Durch die „Stille Zeit“ wird auch nicht die Autorität der
VerkĂĽndiger in der Gemeinde untergraben. Im Gegenteil: Eine intakte Gemeinde wird ihre Glieder zu eigenem Bibellesen ermutigen und nicht von den eigenen VerkĂĽndigern nach einem Entweder-oder
-Prinzip abhängig machen. Die Gemeinde wird geistlich reife Christen „ausbilden“ (Hebr 6,1), die nicht
mehr Unmündige sein müssen (Eph 4,14). Dazu reicht es nicht, ein- oder zweimal die Woche das Wort Gottes verkündigt zu bekommen. Die tägliche Beschäftigung damit wird auch – siehe Beröa – in
damaliger Zeit vorhanden gewesen sein, wenn auch in anderer Form. „Und seid als neugeborene Kindlein begierig nach der unverfälschten Milch des Wortes, damit
ihr durch sie heranwachst.“ (1Petr 2,2) Petrus schreibt, dass wir nach Gottes Wort begierig sein sollen. Ist das Schwärmerei?
Das tägliche private Bibellesen als „mystisch-schwämerische“, „buddhistisch geprägte“, „spirituelle
Selbstversorgung“ zu diffamieren, bei der Gott „in unser Hirn und Herz hätte flüstern können“, zeugt wohl kaum von einer Sehnsucht nach dem inspirierten Wort Gottes.
Im übrigen: Was wäre eigentlich eine Alternative zur „Stillen Zeit“. Gott in den so gennanten Sakramenten zu suchen? Unabhängig davon, ob Taufe und Abendmahl Sakramente genannt werden
können, sind sie äußere Mittel und symbolische Zeichen einer geistlichen Handlung. Wir sollen durchaus darin gehorsam sein, uns eben einmal taufen zu lassen und regelmäßig das Abendmahl zu
feiern. Aber die Frage, ob eine einmalige Taufe und ein Gedächtnismahl uns den ganzen Ratschluss Gottes aufschließt (Apg 20,27), stellt sich wohl kaum. Es bedarf der von Gott gegebenen und
vollständigen Offenbarungserkenntnis. Diese liegt abgeschlossen in der Heiligen Schrift vor. Aufgeschlossen wird sie aber nur durch die Verkündiger in der Gemeinde? Auch, aber nicht nur! Womit
wir wieder bei den Beröern wären, die die Verkündigung nicht ungeprüft stehen ließen, sondern selber nachlasen und regelrecht forschten. Was hat mir Gott zu sagen?
Was ist mein erster Zugang zu seinem Ratschluss, Willen und Plan? Sein Wort selbst! Aber darf ich allein und direkt darin lesen oder bedarf es der VerkĂĽndiger? Der Apostel Paulus bildete Christen aus,
die geistlich reif wurden (Eph 4,13), nicht mehr nur Grundlagen (Milch) benötigten (1Kor 3,2; Hebr 5,12) und sogar fähig wurden, auch andere zu lehren (2Tim 2,2).
Die „Stille Zeit“ ist ein hilfreiches Mittel, die tägliche Gemeinschaft mit Gott zu leben. Sie erfordert Disziplin, Ausdauer und Gehorsam.
Wären die Gläubigen der Urgemeinde so üppig mit Taschen- und Studienbibeln ausgestattet wie wir, wäre es undenkbar, dass sie das tägliche Schriftstudium verschmäht hätten. Nein, Gott hat geredet
durch seine Propheten und seinen Sohn (Hebr 1,1-2 - Vergangenheitsform) und uns sein inspiriertes Wort gegeben (2Tim 3,16). Warum? Weil es nützlich ist, „zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur
Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.“ Wozu? „Dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ (2Tim 3,17)
Gottes Wort ist die Richtschnur, der Maßstab und die Orientierung des Gläubigen. Der Psalmist beschrieb es als „meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.“ (Ps 119,105)
Wie viel mehr sollte das so wichtige Wort täglich gelsen, bedacht und studiert werden?! Ein Christ sollte
Sehnsucht und Verlangen nach Gottes Wort haben, oder wie Petrus schreibt, danach „begierig“ sein. Das hat nicht das Geringste mit Schwärmerei zu tun. Nein, Lukas beschreibt tägliches Schriftstudium
sogar als „edle Gesinnung“ (Apg 17,11). Dass die „Stille Zeit“ wahrscheinlich Jahrhunderte lang in der
Kirchengeschichte nicht geĂĽbt oder gekannt wurde, ist nicht erheblich. Sie ist vielleicht nicht Ausdruck
kirchlichen Lebens, aber sehr wohl geistlichen Lebens. Lasst sie uns täglich praktizieren und uns gegenseitig dazu ermutigen!
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1 Sebastian Heck: „Die (Heils-)Notwendigkeit der Kirche [Gemeinde]: römisch oder reformatorisch?“, in:
Bekennende Kirche. Zeitschrift für den Aufbau rechtlich eigenständiger biblisch-reformatorischer Gemeinden, Nr. 44, April 2011, S.24.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der
letzten Ausgabe
übersetzt und bearbeitet von Otto Weber“ (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1955/1988, 5. Auflage der einbändigen
Ausgabe), S. 687.
6 Sebastian Heck: „Die (Heils-)Notwendigkeit der Kirche [Gemeinde]: römisch oder reformatorisch?“, a.a
.O., S. 25.
7 Ebd.
8 Ronald Senk: Das Israel Gottes. Die Frage nach dem Volk Gottes im Neuen Bund (Hamburg: RVB, 2006), S. 116.
9 Ebd., S. 117.
10 Ebd.
11 Ebd.
Bildnachweis: http://www.uzh.ch/news/articles/2007/2716/bibel.jpg
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